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Die Wortherkunft des Begriffs Retropie konnte ich nicht genau klären. Er taucht im deutschsprachigem Raum um 2017 auf und wurde wahrscheinlich öffentlich von Richard Precht im Rahmen mehrerer Interviews geprägt die das Narrativ der AFD zum Thema hatte. Allerdings erschien im selben Jahr das Buch "Retrotopia" von Zygmunt Bauman das thematisch die Zukunftsvision von Donald Trump und der AltRight-Bewegung in den USA behandelt hat. Der Begriff hat seinen Ursprung also eher weniger in deutsche Polit-Talkshows sondern im politischen Diskurs und der Auseinandersetzung mit der AltRight Bewegung der vereinigten Staaten.
Das Wort Retropie ist eine Synthese aus Retro (lat. retro rückwärts) und Utopie/Eutopie (altgr. ou nicht, topos Ort, Nichtort bzw eu gut, der gute Ort). Die Utopie taucht begriffliche zuerst in Thomas Morus "Utopia" auf und beschreibt eine Vision, ein Bild von einer guten, erstrebenswerten Zukunft. Die Retropie ist nur dem Anschein nach eine erstrebenswerte Zukunftsvision. Sie entwickelt keine neuen Wege, keine neuen Orte sondern bedient sich bereits bekannten und vergangenen Bildern. Dabei geht es nicht um ein korrektes Bild der Vergangenheit sondern eine stilisierte, eine idealisierte Version davon. Ein Abziehbild ohne Tiefe. Man übersieht geflissentlich alle Probleme und Konflikte der jeweiligen Vergangenheit oder dichtet sie zu erstrebenswerte Aspekten um, zum Beispiel die "richtige" Verteilung der Geschlechterrollen und ihren Platz in der Hierarchie der Gesellschaft. Abgesehen davon das jede Retropie nur einen Ausschnitt einer Gesellschaft fragmentarisch beleuchtet ungeachtet des Restbildes ist es auch nur ein Schnappschuss eines kulturellen Prozesses in Bewegung. Um es mit einem Zitat von Frank Herbert zu umschreiben:
"Die meisten glauben eine erstrebenswerte Zukunft sei dadurch erreichbar indem man in eine idealisierte Vergangenheit zurückkehrt, in eine Vergangenheit die erwiesenermaßen so nie existiert hat."
Gottimperator Leto Atreides II
Eine Utopie, ein guter Nicht-Ort, kann nur einer Sein der aus sich selbst bestehen kann und nicht versucht etwas zu reproduzieren was wir entweder nicht ansatzweise verstanden haben oder nur in Teilaspekten sehen wollen. Und Utopien brauchen wir, heute mehr denn je. Denn wir haben anscheinend unsere Utopien verloren, während wir durch den sauren Regen, den Fallout von Tschernobyl und dem kompletten Verlust einer gemeinsamen Realität durch die Medien und die Politik in einer Wolke roten Dunst Richtung Klimakatastrophe und Massenaussterben rasen. Die Welt am Horizont ist allen Prognosen nach eine dystopische, wir aber müssen Wege aus dieser Dystopie (altgr. dys miss- un- übel-) finden, dieser Anti-Utopie, und endlich wieder anfangen aktiv als Gesellschaft eine Zukunft zu gestalten anstatt fatalistisch auf die Katastrophe zu warten oder in die Traumwelt der Retropie in der die Probleme von Morgen in der Idylle von gestern einfach nicht existieren zu versinken.
Eine Gesellschaft die aufgehört hat Utopien zu entwickeln hat meines Erachtens darauf verzichtet sich der Welt und ihren Veränderungen zu stellen stagniert.
Die klassische Frage in einer Bewerbungssituation ist "Wo sehen Sie sich in 5 Jahren?". Wo sehen wir uns als Gesellschaft in 5 Jahren? In 15? In 50? Und wie sieht der Weg von der Gegenwart, vom Hier und Jetzt, in diese Zukunft aus? Die ganze Frage ist wesentlich spannender als es mit dem oberflächlichem Blick erfasst werden kann.
Was ist diese Gegenwart? Der Zustand in dem wir uns ökonomisch, kulturell und politisch befinden? Und wie kann diese Zeit in der Retrospektive gedeutet werden? Wie sehen mögliche zukünftige Generationen auf unsere Zeit, unsere Kultur und unser Wirken zurück? William Gibson meinte einmal über das erfolgreiche Schreiben von Science Fiction das man nicht einfach nur eine Zukunft entwickeln kann. Die beschriebene Zukunft hat ihre eigene Vergangenheit und eine Prozess des Werdens. Die Beschäftigung mit möglichen Zukünften hat den Effekt das man sich in der Gegenwart im Spiegel betrachten kann. Man bekommt die Gelegenheit sich zu reflektieren. Der Weg in eine potentielle Zukunft ist nicht nur ein stehendes Bild sondern auch ein Prozess der zu einem Ort hinführt.
„Time moves in one direction, memory another. We are that strange species that constructs artifacts intended to counter the natural flow of forgetting.“
William Gibson
Eine Gesellschaft die sich allerdings mit einer Retropie beschäftigt verzichtet allerdings nicht nur auf die Auseinandersetzung mit einer anstrebenswerten Zukunft und der Beschäftigung mit den gesamtgesellschaftlichen Implikationen sondern im Gegenteil verharrt sie in fixen Bildern und imitiert diese ohne echte Entwicklung, ohne Prozess. Als literarische Spielart mag eine Retropie Unterhaltungswert haben, aber als gesellschaftliche Entwicklung ist es eine Krankheit die sich diese zu zieht und die ihr die Fähigkeit sich progressiv zu verhalten, Probleme sinnvoll zu lösen und sich weiter zu entwickeln mindestens einschränkt. Wir wären nicht die erste Kultur die an der mangelnden Fähigkeit sich zu verändern und am Festhalten einer glorifizierten zugrunde geht. Die Anasaszi-Kultur hat das erlebt, die Kultur der Osterinseln, das ägyptische Reich und ebenso das römische Reich sind am Mangel der Fähigkeiten der Anpassung und Erneuerung zugrunde gegangen. Aber unsere weiße, männliche Kultur des Geldes und des Wachstums ist die zweite globale Kultur. Im Gegensatz zum britischen Empire allerdings wird die Weltgemeinschaft den gewaltsamen Zusammenbruch unserer globalen Kultur nicht verkraften.